Übersetzungslektorat: 4 heiße Tipps

Das Übersetzungslektorat ist ein wichtiger Teilbereich der Lektoratstätigkeit. 2022 waren fast 15 Prozent aller Neuerscheinungen auf dem deutschen Buchmarkt Übersetzungen. Es lohnt sich also, das Überarbeiten von Übersetzungen anzubieten – vorausgesetzt man hat Lust dazu und verfügt über die entsprechenden Sprachkenntnisse. Worauf im Übersetzungslektorat ganz besonders zu achten ist, verrate ich hier.

Schnittstelle zwischen Übersetzung und Lektorat

Im Übersetzungslektorat bewegen Sie sich an der Schnittstelle zwischen Übersetzung und Lektorat. Im Prinzip bestehen sehr viele Tätigkeiten darin, dass Sie die Arbeit des Übersetzers oder der Übersetzerin genau überprüfen. Bei den folgenden heißen Tipps werden Sie vielleicht sagen: „Aber das ist doch Aufgabe bei der Übersetzung!“ Stimmt. Im Lektorat schlüpfen Sie aber in die Rolle des Sicherheitsnetzes. Sie machen das noch einmal beziehungsweise prüfen die Übersetzungsleistung, damit am Ende wirklich alles passt.

Tipp 1: Auf Vollständigkeit prüfen

Ich mache sehr viel Übersetzungslektorat und ich kann Ihnen ohne Übertreibung sagen: Eine zu 100 Prozent vollständige Übersetzung ist selten. Manchmal fehlt nur eine Bildunterschrift oder ein Nebensatz. Manchmal fehlen ganze Absätze. Offenbar nutzen nicht alle Übersetzer*innen die einschlägige Software, die so etwas verhindern könnte. Vielleicht gibt es auch andere Gründe. Wie dem auch sei: Die erste Aufgabe im Übersetzungslektorat ist immer das Prüfen auf Vollständigkeit.

Nun ist das sehr zeitaufwendig. Ich mache deshalb Stichproben. Am Anfang bin ich sehr eng am Text und prüfe Satz für Satz. Das hat den Vorteil, dass ich ein Gefühl für die Qualität der Übersetzung gewinne. Und ich lerne den Ausgangstext, den gewählten Stil und sprachliche Eigenheiten kennen. All das hilft mir später beim Blick auf die Übersetzungsqualität.

Je nachdem, wie dieses enge, vergleichende Lesen ausfällt, lockere ich dann nach und nach die Zügel oder eben nicht. Bei guter Qualität mache ich dann irgendwann nur noch Stichproben. Vorzugsweise bei Fachtermini, Redewendungen, Anspielungen, Wortspielen, besonders atmosphärischen Textpassagen und eben überall dort, wo eine Übersetzung besonders knifflig sein könnte.

Tipp 2: Lokalisieren

Übersetzende wissen, auf was es hier ankommt: Besonderheiten eines Kulturkreises müssen in der Zielsprache so wiedergegeben werden, dass der andere Kulturkreis versteht, um was es geht. Das fängt auf kleiner Ebene mit Maßeinheiten an. Amerikanische Kochbücher sollten im Deutschen mit Kilo, Gramm und Litern arbeiten, nicht mit Pounds, Ounces und Gallons.

Manchmal ist Lokalisierung aber auch schwieriger. Vielleicht funktioniert ein Wortspiel nur in der Fremdsprache. Dann muss im Deutschen Ersatz gefunden werden. Besonders schwierig wird es, wenn auf etwas Bezug genommen wird, dass in Deutschland komplett unbekannt ist.

Beispiel:

With her outfit she looked just like the Morton Salt girl.
In ihrer Kleidung sah sie genau wie das Morton-Salt-Mädchen aus.

Morton Salt ist eine amerikanische Salzfirma, die in Deutschland nahezu unbekannt ist. In den USA hingegen ist das Logo mit dem Mädchen sehr bekannt. Vielleicht vergleichbar mit dem Zwiebackjungen von Brandt.

Im Übersetzungslektorat müssen Sie hier also Ersatz finden, wenn es in der Übersetzung selbst nicht geschehen ist. Am unschönsten finde ich die Lösung mit einer erklärenden Fußnote. Am elegantesten die Integration einer Einordnung direkt in den Satz.

Zum Beispiel so:

Mit Ihrem kurzen Rock und dem großen Regenschirm sah sie genau aus wie das berühmte Mädchen auf der Salzpackung von Morton Salt.

Tipp 3: Aufpassen bei Umgangssprache

Ich finde Umgangssprache richtig spannend. Sie kann so farbig und kreativ sein! Genau das macht sie aber beim Übersetzen so schwierig. Wird in einem Text Umgangssprache verwendet, sollte das in der Übersetzung beibehalten werden. Schließlich ist das ein prägendes Merkmal, das nicht einfach weggekürzt werden darf.

Aus meiner Praxis im Übersetzungslektorat weiß ich jedoch, dass nicht alle Übersetzenden Umgangssprache gleich gut beherrschen. Außerdem verändert sie sich dauernd. Das ist im Deutschen natürlich genauso. Es kann also sein, dass grundsätzlich die korrekte Übersetzung gewählt wurde, es aber eine aktuellere Variante davon mittlerweile viel geläufiger ist.

Ein Beispiel für eine misslungene Übersetzung eines umgangssprachlichen Ausdrucks:

I am sure, he has some skeletons in his closet.
Ich bin sicher, er hat Skelette im Schrank.

Das funktioniert im Deutschen so natürlich nicht. Die korrekte Übersetzung wäre: Er hat Leichen im Keller.

Tipp 4: Idiomatisch bleiben!

Jede Sprache hat ihre Eigentümlichkeiten jenseits der reinen Grammatik. Dies berührt zum Beispiel Wortstellungen oder feststehende Ausdrücke. Oft finde ich im Übersetzungslektorat eine Übertragung nicht falsch. Sie ist auch verständlich. Aber sie ist eben nicht idiomatisch. Im Deutschen würden Muttersprachler etwas so nie sagen. Das sind typische Fälle für das Übersetzungslektorat.

That’s the reason why we think he should drive himself.
Aus diesem Grund denken wir, er sollte selbst fahren.

Hier ist die Wortstellung aus dem englischen Satz 1 zu 1 ins Deutsche übertragen worden.

Besser wäre:

Wir finden deshalb, dass er selbst fahren sollte.

Oder:

Deshalb finden wir: Es sollte selbst fahren.

Sicher durchs Übersetzungslektorat

Das Übersetzungslektorat ist eine tolle Spielform des Lektorats. Mir macht es sehr viel Spaß, mich mit englischen Texten (Englisch–Deutsch ist meine Sprachkombination) auseinanderzusetzen. Für ein gutes Übersetzungslektorat genügt es aber nicht, beide Sprachen einwandfrei zu beherrschen. Es gehört auch ein präziser Blick auf die möglichen Fallstricke bei der Übersetzung dazu. Das lässt sich aber erlernen. Dann ist das Übersetzungslektorat ein wirklich schönes Betätigungsfeld.

Übrigens: In meinem Online-Workshop „Einstieg ins Lektorat“ gehe ich auch auf das Übersetzungslektorat ein. Der nächste Termin ist im Oktober. Kommen Sie doch vorbei!

Welche Stolpersteine sehen Sie beim Übersetzungslektorat? Verraten Sie es mir im Kommentar!

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