Diversity im Literaturbetrieb – Wunschdenken oder Wirklichkeit?

Der Begriff Diversity ist in aller Munde. Wie sieht es damit im Literaturbetrieb aus? Nach einer spannenden Diskussionsrunde mit drei Playern am deutschen Buchmarkt bin ich um einiges schlauer geworden. Die Erkenntnisse stelle ich hier einmal vor. Es erwartet Sie also mehr als nur ein langweiliger Veranstaltungsbericht. Bleiben Sie dran!

Eingeladen hatte der VFLL (Verband der Freien Lektorinnen und Lektoren) am 12. März 2024. Thema der Diskussionsrunde war: Diversität im deutschen Literaturbetrieb – eine Bestandsaufnahme.

Es diskutierten:

  • Aşkin-Hayar Doğan, Moderator der Runde, Diversity und Empowerment Trainer und Sensitivity Reader. Als solcher hat er kürzlich „Jim Knopf“ von Michael Ende überarbeitet.
  • Regina Feldmann, Kinder- und Jugendbuchautorin
  • Elias Mathias, Lektor, Übersetzer und Krimi-Autor

Was ist Diversity?

Obwohl der Begriff Diversität oder Diversity viel verwendet wird, liegen Welten zwischen theoretischem Verständnis und praktischer Umsetzung. Das wurde gleich zu Beginn klar.

Alle drei verbindet ein gewisses Unbehagen mit dem Begriff. Denn einerseits ist es natürlich wichtig, die Vielfalt der unterschiedlichen Menschen in der Gesellschaft sichtbar zu machen und allen gleiche Rechte zu gewähren. Diskriminierung wegen irgendwelcher Eigenschaften soll keinen Platz mehr haben. Das ist die Grundidee von Diversity.

Weil das jedoch so gut klingt, ist die Gefahr groß, dass sich Unternehmen oder Verlage mit dem Begriff Diversity schmücken, ohne ihn jedoch mit Leben zu füllen. So scheint Diversität zu einem Modewort zu verkommen, dass für Marketingzwecke missbraucht wird.

Gefahr der Tokenisierung

Mathias bringt das Kernproblem von Diversity auf den Punkt: „Diversität zieht identitätsbezogene Grenzen.“ Er meint damit, dass die Menschen auf ihre Andersartigkeit reduziert werden. Mit dem Bestreben, Sichtbarkeit für Vielfalt zu erzeugen, geht gleichzeitig die gefährliche und diskriminierende Festlegung diverser Menschen auf ihre Eigenschaften einher. Es besteht keine wirkliche Gleichberechtigung, sondern nur eine andere Form der Diskriminierung. Dieser Effekt wird auch Tokenisierung genannt.

Auf der Website Diversity Awareness findet sich zu Tokenisierung diese Definition: „Der Begriff ‚Token‘ impliziert, dass die Person lediglich als Symbol oder ‚Placebo‘ für Diversität dient, ohne dass ihr die tatsächliche Befugnis oder Unterstützung gegeben wird, um bedeutende Veränderungen herbeizuführen.“

Feldmann bringt dafür ein Beispiel aus ihrer eigenen Praxis als Kinderbuchautorin: „Ich werde oft erst ziemlich kurzfristig zu Literaturfestivals eingeladen, wenn festgestellt wurde, dass das Panel noch nicht bunt genug ist.“ Als Person of Color erlebt sie außerdem, dass jeweils nur eine Person of Color zu einer Veranstaltung eingeladen wird. Eine sehr künstliche Zusammensetzung von Gesprächsrunden, die nicht die Verhältnisse in der Gesellschaft widerspiegelt.

Gesellschaft als Aquarell

Mathias formuliert stellvertretend für alle drei Diskussionsteilnehmende, was er sich für die Zukunft wünscht: „Eine Gesellschaft als Aquarell, in der alle Farben ein wenig ineinanderfließen. Nicht so ein pastöses Ölgemälde, wie wir es zurzeit haben.“

Für den Buchhandel hält er auch schon eine Lösung parat, die praktisch helfen würde, diesem Ziel näherzukommen. Ein kleiner Schritt vielleicht, aber durchaus effektvoll: „Ich finde diese Thementische mit queerer Literatur in Buchhandlungen so überflüssig! Da gibt es Tische zu Liebesromanen, Tische zu historischen Romanen, Tische zu Krimis. Und eben den queeren Tisch, da liegen dann alle Genres gemischt drauf.“ Vielmehr sollten alle Tische thematisch geordnet werden. Queere Autor*innen oder Bücher mit queeren Figuren oder Themen sollten sich je nach Genre unter allen anderen Büchern finden.

Feldmann ergänzt ein trauriges Kuriosum: „Das Buch ‚Die schwarze Madonna. Afrodeutscher Heimatkrimi‘ von Noah Sow, findet sich im Buchhandel nicht unter den Krimis, sondern unter Rassismus!“ Eindrücklicher kann Festlegung auf ein Merkmal wohl nicht verdeutlicht werden.

Publikum weiter als der Markt

Einig sind sich die Diskutierenden, dass das Lesepublikum reif für Diversity sei. Den Eltern sei es wichtig, Vielseitigkeit im Kinder- und Jugendbuch zu sehen. Insgesamt achteten die Kinderbuchverlage verstärkt auf Diversity in der Literatur.

Nicht ganz so positiv sieht es bei den Krimis aus, wie Mathias zu berichten weiß. Er beobachtet verlagsseitig wenig Mut, queere Charaktere in Büchern zuzulassen. Das sei im Buch ganz anders als im Film, wo es bei Krimis durchaus Diversity auf der Leinwand gebe. Doch auch er stimmt zu: Das Publikum ist offen, der Literaturbetrieb jedoch weniger.

Diversity an der Oberfläche

Unabhängig davon, wie viel Diversität sich in den Büchern selbst findet: Der Literaturbetrieb selbst ist noch weit davon entfernt, divers zu sein. Das beginnt schon damit, dass die Player selbst es nicht sind. People of Color, queere Menschen, Menschen mit Beeinträchtigung – sie alle sind stark unterrepräsentiert im Literaturbetrieb. Dabei gibt es sie, die schwarzen Illustrator*innen, die queeren Übersetzenden, die Lektor*innen im Rollstuhl und so weiter. Sie erhalten nur viel seltener Aufträge oder Anstellungen.

Der Literaturbetrieb ist komplex. Ich nenne hier nur einige Player, die daran teilhaben:

  • Agenturen
  • Verlage mit Lektorat, Programmgestaltung und Marketing
  • Vertrieb
  • Buchhandel
  • Messen
  • Jurys von Literaturpreisen
  • Literaturfestivals
  • Illustrator*innen
  • Autor*innen
  • Übersetzende

Sie alle sind Teil des Systems und damit Stellschrauben für Veränderung. Auf all diesen Ebenen des Buchmarktes müsste tief greifende Antidiskriminierungsarbeit geleistet werden.

Alle drei Diskutierenden betonen: Um Diversity Wirklichkeit werden zu lassen, ist es noch wichtiger, dass marginalisierte Menschen aktiv Teil dieser Strukturen werden. Sie müssen Entscheider*innen sein und ganz selbstverständlich alle Positionen einnehmen, wie alle anderen Menschen eben auch. Und ganz wichtig: Dabei behandeln sie ebenso selbstverständlich alle Themen nach freier Wahl wie alle anderen Menschen auch.

Denn das ist ein weiteres strukturelles Problem: Wenn marginalisierte Menschen zu Wort kommen, werden sie von außen meist auf ein Thema festgelegt, für das sie stellvertretend angesehen werden. Ein weiterer Effekt der Tokenisierung. So erlebt Feldmann regelmäßig, dass sie sich thematisch auf Rassismus beschränken soll. Was sie nicht tut und auch nicht ändern möchte.

Umdenken erforderlich

Für gelebte Vielfalt braucht es in Deutschland und auch am Buchmarkt noch viel Umdenken und viel Einsicht. Wer unsicher ist, kann sich Hilfe holen. Buchen Sie Sensitivity Reader, beauftragen Sie Lektor*innen und Übersetzer*innen, die sich mit einem bestimmten Thema auskennen. Achten Sie auf Vielfalt – auch bei der Wahl der Dienstleister!

Wo begegnet Ihnen das Thema Diversity am Buchmarkt und wie nehmen Sie es wahr? Verraten Sie es mir im Kommentar!

Übrigens: Geschlechtergerechte Sprache ist ein Baustein für mehr gelebte Diversity. Ich biete dazu den Online-Workshop „Einfach gendern“ an. Der nächste Termin ist im August. Schauen Sie doch mal rein!
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